Stillleben Reloaded
Nature Morte in der zeitgenössischen Kunst
No. 03/2013
Explodierende Blumensträuße, Kaninchen mit Lockenwicklern, verschimmelnde Erdbeeren: Das Thema Stillleben ist brandaktuell, denn meist geht es dabei „um die Sterblichkeit des Menschen, und das wird immer relevant bleiben“, sagt der Installationskünstler und Direktor des Museum of Contemporary Art London Michael Petry in einem Interview anlässlich des Erscheinens seines Buches Nature Morte. Über 200 Werke zeitgenössischer, international anerkannter Künstler, die sich mit dem Sujet auseinandersetzen, werden in diesem opulent bebilderten Band vorgestellt und erläutert.
Blow up
In einer Serie großformatiger Fotografien mit dem Titel Blow Up dokumentiert Ori Gersht den Augenblick, in dem ein Blumenstrauß explodiert, der einem Stillleben von Henri Fantin-Latour nachempfunden war. Neue Entwicklungen in der Digitalfotografie ermöglichten es dem Künstler, den 6000sten Bruchteil einer Sekunde festzuhalten. Die Heftigkeit der Explosion wird von Gersht als bewusster Kontrast zur Ruhe der traditionellen Silllebenmalerei eingesetzt, die Botschaft der Vergänglichkeit jedoch bleibt.
Der Fisch klagt an
Cindy Wright konfrontiert den Betrachter auf ihren Gemälden mit der Tatsache, dass Fisch und Fleisch als Lebensmittel einen hohen Preis haben, weil sie den Tod von Lebewesen voraussetzen. Ihr großformatiges, quadratisches Bild Baconsquare, über 2 × 2 Meter groß, bildet das feucht glänzende, rohe Schweinefleisch ab, aus dem Frühstücksspeck gefertigt wird. In Nature Morte 2 starrt ein blutiger, ausgenommener Fisch, in ein Goldfischglas gepresst, anklagend auf den Betrachter. Das Glas mit dem Zierrand steht auf einem Häkeldeckchen, was das Pathos der Anklage noch unterstreicht.
Geheilte Tasse
Für ihre Installation Broken Things sammelte Livia Marin zerbrochenes Alltagsgeschirr, dem sie durch ihre künstlerische Verwandlung verleiht eine neue Ganzheit verlieh. „Was mich an Alltagsgegenständen fasziniert“, so die Künstlerin, „sind die menschlichen Spuren, die ihnen anhaften und die durch die Kunst herausgestellt werden können“. Indem Livia Marin die zerbrochenen Objekte des alltäglichen Gebrauchs „heilt“, fordert sie auch mehr Achtsamkeit für das damit verbundene Leben ein und erschafft Werke, die sowohl auf den Tod als auch auf Verwandlung und Wiedergeburt verweisen.
Gewitzt und traurig
Nancy Fouts bezieht in ihre surrealen Werke häufig präparierte Tiere ein, ob es sich nun um eine Schnecke handelt, die an der Kante eines Rasiermessers entlangkriecht, einen Wellensittich, der aus einer Glasglocke ausbricht, einen Marienkäfer, der anstelle eines weißen Punkts auf einem Dominostein zu finden ist, oder um ein Kaninchen mit Lockenwicklern. Mit ihren gewitzten Einfällen ihre künstlerische Verwandlung verleiht sie den sterblichen Hüllen – und letztlich traurigen Überresten – der Tiere eine neue Lebendigkeit.
Fluchtpunkte
Mark Flores flanierte insgesamt drei Mal auf voller Länge (35 km) den Sunset Boulevard in Los Angeles entlang und machte dabei sowohl tagsüber als auch nachts Aufnahmen. Die Fotografien dienten ihm als Vorlage für die 99 Gemälde seiner Ausstellung Hammer Projects (2010). Der Stil der Gemälde reicht von vage impressionistischer Anmutung bis zu Nahaufnahmen vergrößerter Farbpixel. In Gemälden wie New Arrangement (2011) experimentierte Flores (dessen Nachname auf Spanisch Blumen bedeutet) auch mit Blumenstillleben, wobei er einander überlappende Farbpunkte auftrug, um einen Blumenstrauß vor einem schwarzen Hintergrund darzustellen. Aus der Nähe betrachtet lösen sich die Bilder in abstrakte Kompositionen auf, wodurch die Darstellungsweise ebenfalls ein traditionelles Thema des Stilllebens, nämlich Wandelbarkeit und Flüchtigkeit, aufgreift.
Ein Drittel ist Müll
One Third betitelte Klaus Pichler seine Serie von Fotografien mit den Abbildungen verschimmelnder Lebensmittel – nach dem Ergebnis einer UN-Studie, derzufolge jedes Jahr ein Drittel der weltweit produzierten Esswaren auf dem Müll landet. Die Bildlegenden zu den kunstvoll arrangierten Tableaus lenken die Aufmerksamkeit auf die Ressourcen, die für Produktion und Transport verbraucht werden, sowie die Entfernung, die die Waren zurücklegen, bis sie schließlich auf dem Tisch der Verbraucher landen – oder wie in diesem Fall vor der Kameralinse des Fotografen in Wien.
INTERVIEW MIT MICHAEL PETRY
Wie entstand die Idee zum Buch?
Im Rahmen meiner eigenen künstlerischen Tätigkeit habe ich kürzlich ein Werk mit dem Titel The Revenge of the Florist (Die Rache des Floristen) geschaffen, das aus vierdimensionalen Stillleben bestand – die vierte Dimension war die Zeit. Die verwendeten Blumen verwelkten oder vertrockneten während der Ausstellung, und mir fiel auf, dass viele andere Künstler ebenfalls solche klassischen Metaphern für Vergänglichkeit ver- wenden. Das wollte ich dokumentieren.
Anhand welcher Kategorien erfolgte die Auswahl der Künstler und Werke?
Die Künstler sollten sich intensiv mit dem Genre des Stilllebens in den vergangenen Epochen auseinandergesetzt haben und die entsprechenden Themen mit ihrer Arbeit in das 21. Jahrhundert übertragen. Viele Künstler verwenden traditionelle Metaphern, um ein Statement etwa über den Tod oder die Tatsache, dass sich der Westen seit über einem Jahrzehnt im Krieg befindet, abzu- geben. Politische Kunst, wie sie in den 1960er Jahren praktiziert wurde, ist heute nicht mehr möglich. Damals glaubten die Künstler, dass ein Gemälde die Welt verändern könne. Heutzutage sind uns die zugrundeliegenden Strukturen bewusster, und der Kommentar darüber muss wesentlich klüger ausfallen.
Was machen Sie neben Ihrer Tätigkeit als Autor?
Einen großen Raum nimmt meine eigene Kunst ein. Zur Zeit habe ich eine Einzelausstellung in der Hiram Butler Gallery (www.hiram-butler.com) in Houston und ich arbeite an einer großen Installation für die anstehende Alentejo Triennial in Portugal (Oktober 2013, www.trienal-alentejo.com). Außerdem zeige ich 2014 einige Werke in der Ausstellung Multiple Exposures im Museum of Arts & Design, New York. Darüber hinaus kuratiere ich eine Schau, die auf meinem Buch The Art of Not Making basiert und derzeit in Norwegen im Kunst-und Kulturzentrum Hå Gamle Prestegard und ab Februar 2014 in Stockholm zu sehen ist.
Gab es bei diesem Projekt einen Austausch zwischen dem Künstler und dem Autoren Michael Petry?
Sämtliche Bücher, die ich verfasst habe, zum Beispiel Installation Art, The Art of Not Making, Hidden Histories, entstanden aus meiner künstlerischen Praxis heraus. Ich bin der Meinung, dass Künstler am besten dafür geeignet sind, neue Themen einem größeren Publikum näherzubringen, da sie so viel über das wissen, was sie und andere Künstler tun. Aus diesem Grund schreibe ich jetzt ein Blog für die Huffington Post (www.huffingtonpost.co.uk/dr-michael-petry/).
Denken Sie, dass das Stillleben in der zukünftigen Kunst eine wichtige Rolle spielen wird?
Für die Auseinandersetzung mit dem Thema, was es heißt, sterblich zu sein, wird das Stillleben für zeitgenössische Künstler immer eine wichtige Quelle darstellen. Im Stillleben geht es um die Sterblichkeit des Menschen (im Gegensatz zur Moral) und das wird immer relevant bleiben.
Auf welche Weise haben die neuen Medien die Beschäftigung mit dem Stillleben beeinflusst?
Ich wollte mit dem Buch zeigen, dass Stillleben sehr wohl mit neuen Medien erstellt werden können. Wir zeigen vielfältige Werke wie Videos, Projektionen oder Performance Art – und haben sogar eine bezaubernde Blume von Hockney, die er auf dem iPad gemalt hat.
Nature Morte. Stillleben in der zeitgenössischen Kunst Sonderausgabe Hirmer Verlag€ 49,90→ Aktuell nur € 19,90 (unter: www.hirmerverlag.de)